24. Internationaler Kongress des CIRIEC
Neapel, 30. September  - 2. Oktober 2002

„Neue Wege zur Umsetzung des Allgemeininteresses“
Öffentliche Unternehmen und Verwaltungen, regulierte Märkte, sozialwirtschaftliche Organisationen“

 

Der Kongress drehte sich wesentlich um zwei große Schwerpunkte: einen allgemeinen und theoretischen, auf den sich die Debatten in der Anfangs- und Schlusssitzung konzentrierten, und einen ins Detail gehenden, pragmatischen Schwerpunkt, wobei das Interesse besonders auf den nationalen und örtlichen Erfahrungen in den vier für das Gemeinwohl wesentlichen Bereichen lag (Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse; Erziehung und Bildung; Gesundheit, Sozialfürsorge und soziale Sicherheit; Umwelt).

Die Thematik war hoch gesteckt und von brennender Aktualität, wie der Präsident des internationalen CIRIEC Jacques Fournier und der Generalsekretär des italienischen CIRIEC Massimo Pinchera in ihrer Eröffnungsrede betonten.

Die Bürgermeisterin von Neapel Rosa Iervolino Russo, die für die Themenwahl des CIRIEC und die Seriosität des Ansatzes lobende Worte fand, und der Assessor für Universität und wissenschaftliche Forschung der Region Luigi Nicolais, der in Vertretung des Präsidenten der Region Kampanien Antonio Bassolino sprach, eröffneten den Kongress mit einem Willkommensgruß an die Teilnehmer und ihre Begleiter. 

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1.      Zur allgemeinen Situation

Zu Beginn der Arbeiten gab der Präsident des italienischen CIRIEC Francesco Paolo Casavola, ehemals Präsident des Verfassungsgerichtes,  aktueller Leiter des Instituts der italienischen Enzyklopädie Treccani und Professor, Universität  Federico II Neapel, einen historischen Überblick; darin ordnete er die aktuelle Krise des Sozialstaates in einen historischen Rahmen ein und wies darauf hin, dass seine Reform wohl wünschenswert ist, seine Abschaffung jedoch völlig unrealistisch und inakzeptabel.

Zu einer historischen Perspektive riet auch die ehemalige Ministerin für Solidarität in der französischen Regierung und aktuelle Ehrenabteilungspräsidentin im Staatsrat Nicole Questiaux, die zu bedenken gab, dass die Ideen der sozialen Solidarität und die ersten Initiativen zu Sozialversicherungen am Ende des 19. Jh.s und in den ersten Jahren des 20. Jh.s entstanden sind, also in einer Gesellschaft, die von sozialer Härte und Konkurrenz geprägt war und von tiefgreifenden und plötzlichen technischen Umwälzungen erschüttert wurde.

Weder der Staat noch der Markt sind in der Lage, alle Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft zu lösen; nach Auffassung von José Barea, Dozent an der freien Universität Madrid und ehemaligen Minister der spanischen Regierung, muss ein dritter Weg gefunden werden, um dem Versagen des einen wie des anderen Akteurs Abhilfe zu schaffen.

Auch der Markt hat im Lichte der Tatsachen die überzeugten Vertreter der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen von allgemeinem Interesse teilweise enttäuscht, zumindest was die Effizienz des Systems angeht. Am Beispiel der Stromversorgung in Groß Britannien sprach zu diesem Thema Steve Thomas,  Dozent an der Londoner Universität Greenwich.

Ein Beispiel für die schwierige Suche nach einem Ausgleich zwischen den Erfordernissen des freien Marktes und dem Schutz der Rechte und Interessen der Bürger bietet nach Anne Houtman,  Stellvertretende Kabinettchefin  des Präsidenten der Europäischen Kommission, das wirtschaftlich-soziale Handeln der Europäischen Union.

Wenn es einen bereits experimentell erprobten ‚Dritten Weg’ zwischen Staat und Markt gibt, dann sind es die Kooperativen: zu diesem weiten und bunten Bereich referierte am letzen Tag des Kongresses Ivano  Barberini, Präsident des Internationalen Genossenschaftsbundes und Präsident der Nationalen Liga der Genossenschaften und  Versicherungen (Italien)

Die Überzeugung, dass das Prinzip der freien Konkurrenz der gesetzgeberischen Kontrolle durch die Regierung bedarf, ist die Grundlage des Wirkens von Ver.di, der deutschen Einheitsgewerkschaft für den öffentlichen Dienst. Deren Ziele und Aktivitäten standen im Mittelpunkt der Ausführungen ihres Vorsitzenden Frank Bsirske Mitglied im Vorstand der EGÖD, des Europäischen Gewerkschaftsverbandes des öffentlichen Dienstes.

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2.      Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse

Marktwirtschaft und soziale Solidarität, Effizienz der öffentlichen Hand und des privaten Sektors, Kontrolle und gesetzliche Regelung durch den Staat: diese Themen, die bereits in den beiden Plenarsitzungen im Mittelpunkt standen, wurden auch im ersten der vier Workshops breit erörtert, auf die sich die Delegierten im zentralen Teil des Kongresses aufgeteilt haben. Dieser Workshop befasste sich mit den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse.

Die Ineffizienz der staatlichen Behörden –die Grundlage der seit mehr als zwanzig Jahren verfolgten Privatisierung – ist nach Meinung des Mailänder Universitätsdozenten Giuseppe Bognetti und des Universitätsdozenten Lorenzo Robotti,  aus Ancona eine Behauptung, die weder in theoretischer noch in empirischer Hinsicht zu überzeugen vermag. Die neoklassischen Theorien sind nicht in der Lage, die auslösenden Faktoren der Privatisierungswellen zu erklären, die in den letzen Jahrzehnten über alle westlichen Länder und ihre Ökonomien hinweg geschwappt sind.

Nicht nur die Planwirtschaft hat versagt, auch der Hyperkapitalismus hat sich als unfähig erwiesen, die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Als Konsequenz stehen wir nun am Anfang einer neuen Phase, in der es auf die Partnerschaft zwischen verschiedenen Akteuren ankommt (Behörden vor Ort, Sozialwirtschaft und Privatwirtschaft), um eine größere demokratische Beteiligung und einen dauerhafteren Wohlstand sicherzustellen. Dies jedenfalls ist die Überzeugung des Vorsitzenden von REVES (Europäisches Netzwerk der Städte und Regionen für .Sozialwirtschaft) Jens Nilsson Bürgermeister von Östersund und Vorsitzender des schwedischen Instituts für Sozialwirtschaft.

Eine soziale und solidarische Wirtschaft und die darin beschäftigten Unternehmen zu fördern ist das Ziel von GESQ (Gruppe für Solidarwirtschaft von Quebec), über deren Aktivitäten ihr Präsident Gérald Larose,  Dozent an der Universität von Montreal, berichtete.

Ein Beispiel, wie öffentlicher und privater Bereich sich zusammen tun können, um gemischtwirtschaftlich die Qualität und Effizienz von Dienstleistungen zu verbessern, bieten die LVB, die Leipzig Verkehrsbetriebe, die von ihrem Vorsitzenden und Generaldirektor Wilhelm Georg Hanss vorgestellt wurde, der ebenfalls Generaldirektor der Leipziger Verkehrs- und Versorgungsbetriebe ist.

Bei den Dienstleistungen im Interesse der Allgemeinheit spielen die städtischen Unternehmen oder die Kapitalbeteiligungen der Kommunen nach wie vor eine unverzichtbare Rolle. Dies jedenfalls ist die These von Achille Diegenant Präsident der Koordinierungsvereinigung des öffentlichen Elektrizitäts-, Gas- und Kabelversorgungssektors Belgien (INTER-REGIES).

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3.      Erziehung und Bildung

Im Mittelpunkt des zweiten Workshops des Kongresses, der sich mit den Problemen der Schule und der Berufsausbildung befasste, standen drei Schwerpunkt: die Ausbildung im Bereich der Sozialwirtschaft und der Genossenschaften, die staatlichen Maßnahmen im schulischen und beruflichen Ausbildungswesen und die Beiträge der Schule (besonders aber der Universitäten) zum Studium der staatlichen Wirtschaft.

Die Einrichtung einer virtuellen Sozialwirtschaftschule wurde von Alberto García Müller Dozent an der Universität der Anden in Venezuela, befürwortet.

Die fundamentale Bedeutung von Schule und Ausbildung für die Entwicklung der Genossenschaftsbewegung stand im Mittelpunkt des Vortrags von Kadir Arici Generaldirektor der Zentralen Union der türkischen Agrarkreditgenossenschaften.

Auch für Mauricio Serva,  Dozent an der brasilianischen Universität Paraná, sind lebenslange Erziehung und Bildung die Grundlagen für den Aufschwung der Sozialwirtschaft.

Die Schaffung eines europäischen Raumes des lebenslangen Lernens wurde im Beitrag von Alice Copette,  der Referatsleiterin in der Generaldirektion Bildung und Kultur – berufliche Bildung der Europäischen Kommission, als konkretes Ziel der Länder der Union genannt.

Österreich ist eines der europäischen Länder, in denen die staatlichen Maßnahmen entscheidende Vorgaben für die wirtschaftliche Entwicklung darstellten. Es ist daher nur logisch, dass das Studium aller mit der staatlichen Wirtschaft in Zusammenhang stehenden Themen einen herausragenden Platz an den österreichischen Universitäten einnimmt, wie aus dem Vortrag von Gabriel Obermann, Dozent an der Wirtschaftsuniversität Wien, hervorging und Vorstand, Institut für Finanzwissenschaft.

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4.      Gesundheit, Sozialfürsorge und soziale Sicherheit

Im Mittelpunkt des dritten Workshops stand der gesamte Bereich der Sozialfürsorge, der wohl den größten Anlass zur Sorge gibt, der aber auch der Bereich ist, in dem die Entwicklung des sogenannten „dritten Systems“ der Sozialwirtschaft am innovativsten ist und die besten Ergebnisse verspricht.

Die Krise des öffentlichen Gesundheitswesens war Gegenstand des grundsätzlichen Referats von Guy Peeters Generalsekretär des belgischen Verbandes der Sozialistischen Krankenkassen.

In den Entwicklungsländern – darauf wies José Maria Francisco Garriga,  hin, Direktor des Argentinischen Krankenversicherungsverbandes (FAMSA) – gibt es immer noch breite Schichten der Bevölkerung ohne jeden Zugang zu einer anständigen medizinischen Versorgung.

Ein breites Wirkungsfeld steht der Genossenschaftsbewegung in den westlichen Ländern offen, besonders in spezifischen Bereichen wie der Kinderbetreuung und der Altenfürsorge. Das gilt nach Auffassung von Gun-Britt Martensson der Präsidentin des schwedischen Verbandes der Wohnungsgenossenschaften (HSB), sogar für ein Land wie Schweden, das auf eine traditionell starke Präsenz des Staates in allen Bereichen der Sozialfürsorge zurück blickt.

Von der intensiven Tätigkeit der internationalen Vereinigung der Krankenversicherungen berichteten des griechischen Krankenversicherungsverbandes (OATYE) Alexandre Krauss der Verantwortliche für internationale Beziehungen desselben Verbandes und Damianos Varelis, Präsident.

Die tiefgreifende Reform der Altenpflege in Japan von 2000 war Gegenstand der Analyse von Masatomi Funaba,  Dozent an der Universität für Marketing und Absatzwissenschaften Kobe, und Kaori Saito,  Privatdozent an der Universität Tokyokaseigakuin.

Die Rechtsgleichheit der Bürger bei der Sozialfürsorge stellt nach Emerit Bono Martinez Dozent an der Universität Valencia und ehemaliger Minister in der Regionalregierung von Valencia, eine beispielhafte Herausforderung dar, der sich die Europäische Union in den nächsten Jahren stellen muss, wenn sie auf dem Weg einer positiven Integration konkret weiter kommen will.

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5.      Umwelt

Die engen Beziehungen, die zwischen dem Allgemeinwohl und einer umweltorientierten Politik bestehen, die natürliche Umwelt als schützenswerte wirtschaftliche Ressource, die unterschiedlichen Herangehensweisen der öffentlichen und privaten Unternehmen an die Umweltproblematik waren die interessanten Themen, die sich im Verlauf der lebhaften Diskussion auf dem vierten Workshop des Kongresses heraus geschält haben.

Die Umweltpolitik verfolgt nach Ignazio Musu Dozent an der Universität Ca’ Foscari in Venedig, den Zweck, das natürliche Kapital zu schützen, das eines der Bausteine des Sozialkapitals darstellt.

Die engen Verbindungen, die zumindest seit den 70er Jahren zwischen dem Umweltschutz und den gemeinwohldienlichen Dienstleistungen der öffentlichen Unternehmen bestehen, untersuchte Wolfgang Lauber,  stellvertretender Abteilungsleiter „Umwelt und Verkehr“ an der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien.  Dabei berücksichtigte er besonders die Verhältnisse in Österreich.

Ein Beispiel für die Modernisierung von Industrienbetrieben nach Kriterien des Umweltschutzes liefern die Wasserwerke Berlin. Über die dabei gewonnenen Erfahrungen berichtete das Vorstandsmitglied Christa Hecht.

Zu den innovativen Finanzierungsmitteln, die sich auch auf den Umweltschutz günstig auswirken, gehören die ethischen Fonds. Isabelle Bois de Ferré,  Beraterin in Finanzstrategie bei der Gesellschaft Gaz de France, berichtete darüber.

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6.      Runder Tisch

Am Ende des Kongresses, der eine zukunftsorientierte Reflexion und Diskussion in Gang gesetzt hat, fanden Gespräche am Runden Tisch statt. Die Teilnehmer waren hier aufgefordert, die wichtigsten Aufgaben und möglichen neuen Rollen der staatlichen Behörden in den kommenden Jahren zu definieren.

Moderiert wurden die Tischgespräche von Jacques Fournier,  Präsident des internationalen CIRIEC und Ehrenpräsident der SNCF, der französischen Eisenbahngesellschaft; bei seinem Eröffnungsbeitrag sprach er von der  Ineffizienz des Marktes und einem neu geforderten Einsatz des Staates. Teilnehmer der Diskussion waren: Gérard Delfau, Senator und Präsident des französischen CIRIEC (die Antiglobalisierungsbewegung als Ausdruck des Bedürfnisses nach Beteiligung an staatlichen Entscheidungen), Benoît Lévesque Dozent an der Universität von Quebec in Montreal und Direktor von CRISES – Forschungszentrum für soziale Innovationen in der Sozialwirtschaft, den Unternehmen und Gewerkschaften (der „positive“ Sozialstaat, Investitionen in Soziales statt sozialer Betreuungsstaat), Alessandro Montebugnoli Präsident des Verbandes „Neue Dienstleistungen“ (Mittel und Organisationsformen einer neuen Sozialstaatspolitik), Wilfried Räpple,  sprecher der Geschäftsführung, Stadtwerbe Köln (SWK), Mitglied des Vorstandes, Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerbe (GEW) (öffentliche Dienstleistungen in kommunaler Hand).

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7.      Schlussfolgerungen

Als der Direktor des CIRIEC Bernard Thiry,  Dozent an der Universität Lüttich, auf die Schlussfolgerungen aus dem Kongress zu sprechen kam, wies er auf drei große Themen hin, die in den Referaten und Diskussionsbeiträgen immer wieder auftauchten: die Verantwortung des Staates bei der Sicherung des Wohlstands und des Gemeinwohls; die Nachhaltigkeit der Politik, Weiterentwicklung der Aufgabenaufteilung zwischen verschiedenen Einsatzmodalitäten der Gelder und verschiedenen Organisationsformen. 

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8.      Diskussionsbeiträge

Neben den Referaten der Redner wurden im Sekretariat des Kongress elf schriftliche Diskussionsbeiträge eingereicht. Sie bezogen sich sowohl auf das allgemeine Thema der Plenarsitzungen als auch auf die spezifischeren Themen der Workshops. So gab es zum Verhältnis zwischen staatlichem Handeln und Gemeinwohl einen Redebeitrag von Pierre Bauby Direktor am Observatorium Elektrizität und Elektrizitätsgesellschaft Frankreichs; Rafael Chaves von der Universität Valencia und Antonia Ribas Bonet von der Universität der Balearen reichten einen Beitrag ein über die systematische Herstellung von Transparenz in gemeinnützigen Organisationen; erneut Rafael Chaves,  und Antonia Sajardo-Moreno, von der Universität Valencia sprachen über neue Tendenzen bei den gemeinnützigen Organisationen im heutigen Spanien; Juan del Pino Artacho,  von der Universität Malaga und Vizepräsident des spanischen CIRIEC über den Beitrag von Betrieben der Sozialwirtschaft zum gesellschaftlichen Wohlstand; Manuel Fernández-Esquinas,  vom Andalusischen Institut für Sozialforschung über die Wahlmöglichkeiten im öffentlichen Schulsystem Südspaniens; Stefania Gabriele,  vom Institut für wirtschaftliche Forschung und Analyse (ISAE) und Stefano Zolea,  von der Region Kampanien, über die Schwierigkeiten bei der Auswertung der PISA-Studie, d.h. dem Programm der OECD zur Ermittlung der schulischen Leistung fünfzehnjähriger Schüler; Emilio Galdeano Gómez, von der Universität Almeria über den ökonomischen Zusammenhang der Maßnahmen zum Schutz der Umwelt mit dem Wertzuwachs der Genossenschaften der Obst- und Gemüsebauern in Andalusien; Jean-Paul Giraud,  Präsident Verbandes der SEM und Europa, über gemischtwirtschaftliche Gesellschaften als zukünftige Lösung für eine Partnerschaft zwischen Staat und Privaten; Nicola Postiglione,  von der Universität Salerno, über Planungsvorgaben im dritten Sektor; Stefano Sacconi Chefredakteur der „Rivista della cooperazione“, über Kooperation und Entwicklungsstrategie; George Tseo,  von der Universität Pennsylvania und Hou Gui Sheng,   vom Qingdao Institute of Chemical Technology über Eigentums- und Gewinnbeteiligung der Beschäftigen als positiver Faktor bei der Reform der chinesischen Staatsbetriebe.

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